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20.000 Studierende, Platz für 8.500 und Personal für 12.000. Die Universität Potsdam auf dem Weg ins Guinness-Buch?

Das Szenario ist nicht zum ersten Mal beschrieben: ein hoffnungslos überfüllter Zug schiebt sich langsam nach Golm und sobald er stoppt, wälzt sich eine nicht enden wollende Masse Studierender aus dem Koloss und sucht sich seine Wege in nicht zerstäuben wollenden Strömen zu den einzelnen Instituten. Ähnliche Szenarien spielen sich im Campus-Shuttle 605/606 und der S-Bahn-Anbindung nach Griebnitzsee ab. Die Verantwortung für diese verkehrsplanerischen Glanzleistungen sind nun nicht in der Universität zu suchen, jedoch zeigt der ÖPNV außerhalb genau das, was innen ebenso allgegenwärtig ist: Kapazitätsdefizit. Michael, der im 3. Semester Linguistik studiert, findet dazu deutliche Worte: „Eine Rinderherde ist nichts dagegen.“

Im neuen Wintersemester ist es geschehen: Die Universität Potsdam liegt zum ersten Mal bei über zwanzigtausend Studierenden. Und das in Räumen, die für 8.500 Studierende ausgelegt sind und „betreut“ von DozentInnen, deren Arbeitszeit für ca. 12.000 Studierende eine angemessene Studiumsbetreuung sicherstellen soll. Die Effekte sind tagtäglich präsent: Lehrräume werden zu Voll- bzw. Übervollräumen und sind hoffnungslos überbelegt. Wer einen Platz haben will, und dies bestenfalls auf einem Stuhl, kommt entweder zwanzig Minuten früher oder wandert mit Fremdbestuhlung aus anderen Räumen über die Flure. Das Fehlen von Tischen in verschiedenen Seminarräumen im Golmer Haus 14 weist auf eine erste Reaktion der Universität zur Erhöhung der Fassungsvermögen hin – was Seminararbeit ohne Schreibfläche bedeutet.

Die Lage mit der Essensversorgung ist ähnlich: In den Kernzeiten sind Warteschlangen bis in die Sitzbereiche der Mensen an allen Standorten nicht unbekannt. Um die ohnehin schon zu wenigen Plätze effektiver an Bedürftige mit Tablett zu verteilen, wird der bloße Aufenthalt in diesen Tagesphasen nicht gerne gesehen und per Tischaufsteller untersagt. Doch leider fehlen die Alternativen in Form von Aufenthaltsräumen. „Sogar für das Klo muss man anstehen“ schimpft Kerstin, die in Griebnitzsee studiert: „Das war vor ein paar Jahren noch nicht so. Aber wenigstens ist die Brille noch warm.“ Eine zeitliche Entzerrung der Studientage, also die Belegung von Zeiten außerhalb der Kernzeiten zwischen neun und fünfzehn Uhr, bewirken dann schnell Studientage von morgens acht bis abends um neun. Unangenehm wird der Universitätsaufenthalt durch Überfüllung aller Bereiche allemal. Dennoch ist dies nicht der schlimmste Aspekt: Immerhin sind Studierende an der Universität um zu lernen und die Hochschule ist die Struktur, die dies ermöglichen und erleichtern soll und die dafür DozentInnen ins Feld schickt. Doch alleine schon die oben genannten Zahlen weisen auf eine Überbelastung: Die Reaktionen sind vielfältig: z.B. Teilnahmebegrenzung, also Lehrverweigerung, die durch PULS entpersonalisiert und vereinfacht werden. Auf der anderen Seite stehen Massenvorlesungen mit 400 ZuhörerInnen wie in der Psycholgie-Ringvorlesung, die immer noch doppelt so groß sein müsste. Mangelverwaltung schwankt also zwischen Bildungslotterie und miserabler Lehre, wobei ein Schuldiger oder eine Schuldige nur schwer auszumachen sind: DozentInnen verweisen auf die Qualität der Lehre für die Teilnehmenden, um Andere auszuschließen oder verweisen auf die Chance für alle, um dann massenkompatible und didaktisch wertlose Prüfungsleistungen zu installieren. Die Universität zeigt aufs Land und auf chronische Unterfinanzierung, während dieses die Zuständigkeiten wahlweise auf die Universitätsverwaltung oder den Bologna-Prozess bzw. Beschlüsse der Kultusministerkonferenz schiebt. Dabei geht zweierlei verloren: Erstens stecken hinter all diesen Entwicklungen persönliche und politische Entscheidungen. Und zweitens, dass damit Lebenswelten gestaltet und Perspektiven zerstört werden – von Menschen, deren Einflussmöglichkeiten in diesen Prozessen zunehmend beschnitten werden. „Wir lassen Sie nicht allein“ schreibt unsere Präsidentin auf den Internetseiten für Erstsemester. Vor dem aktuellen Hintergrund klingt dies wie ein schlechter Scherz.

Sebastian Schultz  [12. Januar 2009]

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