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» altes/clr_text/Wenn der Horizont am Landkreis endet



Diskriminierung und Rassismus im Alltag erleben Menschen mit Migrationshintergrund überall in Deutschland. Insbesondere Asylsuchende erleben in Deutschland neben dem Rassismus auf der Straße eine permanente Diskriminierung durch eine rechtliche Schlechterstellung. Beispiele gibt es viele: Kürzung der Sozialhilfe um bis zu 40%, fehlender Schutz der Familieneinheit bei Abschiebungen, fehlendes Recht auf höhere Schulbildung, Studium oder Ausbildung, weitgehendes faktisches Arbeitsverbot, Einkauf mittels Lebensmittelkarten… die Liste ließe sich noch fortsetzen.

An dieser Stelle wollen wir nur einen Aspekt des institutionellen Rassismus darstellen, der einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte bedeutet: Die Residenzpflicht.

Was ist die Residenzpflicht?

Der Einkauf im nächstgelegenen Supermarkt, ein Besuch bei Verwandten, ein Ausflug mit dem »Schönen-Wochenende-Ticket« oder ein Fußballspiel auf dem Platz der gegenüberliegenden Straßenseite – alltägliche Tätigkeiten können für Flüchtlinge zum Verhängnis werden. Seit 1982 unterliegen Asylsuchende, deren Anträge noch bearbeitet werden, einer Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz § 56 – die sogenannte Residenzpflicht. Sie dürfen den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem sie gemeldet sind, nicht verlassen. Ein Asylverfahren kann in Deutschland unter Umständen mehr als zehn Jahre andauern. Während dieser Zeit muss jedes Verlassen des Landkreises beantragt werden, wobei der oder die Asylsuchende der Willkür der zuständigen Behörde unterworfen ist – der/die SachbearbeiterIn entscheidet, ob „zwingende Gründe“ vorliegen oder was eine „unbillige Härte“ im Sinne des Gesetzes bedeutet. So kann ihr/ihm z.B. der Besuch der Verwandtschaft, beim Anwalt/der Anwältin, beim Spezialarzt oder bei der Spezialärztin gestattet werden, muss aber nicht.

Was bedeutet die Residenzpflicht für die Asylsuchenden?

Die offizielle Begründung für die Residenzpflicht ist die Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die bessere Verteilung der öffentlichen Lasten und eine schnellere Erreichbarkeit im Asylverfahren. In Wirklichkeit sperrt die Residenzpflicht Flüchtlinge in ein oft äußerst kleines Gebiet ein. Insbesondere in ländlichen Regionen leben Flüchtlinge in von Stacheldraht umzäunten Unterkünften mitten im Wald. Die nächstliegende Stadt befindet sich mitunter außerhalb der Landkreisgrenze. Flüchtlinge werden von Familienangehörigen und Menschen gleicher Herkunft und Sprache isoliert und systematisch aus der Gesellschaft ausgegrenzt.

Wer das „Gefängnis ohne sichtbare Mauern“ verlässt, gilt als kriminell: Das nicht genehmigte Verlassen des Landkreises wird mit Geldstrafen von 10 bis 2.500 Euro geahndet. Bei Wiederholung steigt das Strafmaß auf bis zu einem Jahr Gefängnis.

Eine Konsequenz der Residenzpflicht ist, dass Flüchtlinge, die sich ohne Genehmigung außerhalb „ihrer“ Landkreisgrenzen aufhalten, Schikanen durch rassistische Mitbürgerinnen, Neonazis, Bahnangestellte, PolizistInnen oder Sicherheitspersonal wehrlos ausgeliefert sind, da sie in der ständigen Angst leben müssen, erwischt zu werden.

Die deutsche Regelung der Residenzpflicht ist europaweit einmalig. Solche Maßnahmen werden ansonsten lediglich im Kriegsfall oder bei Naturkatastrophen ergriffen. Sie werden dann gegen die gesamte Bevölkerung angewandt. Die Residenzpflicht ist der als gesellschaftliche Normalität verkleidete Ausnahmezustand gegen einen Teil der Bevölkerung. Sie ist ein Apartheidgesetz gegen Flüchtlinge in Deutschland. Der Staat verabsolutiert und reproduziert damit ein rassistisches Menschenbild. Ein sichtbarer Ausdruck sind die exzessiven Personenkontrollen von nicht deutsch aussehenden Menschen auf Bahnhöfen, in Zügen, an Landkreisgrenzen, auf Autobahnraststätten, auf den Dörfern und in Wohnvierteln. Dieser „institutionelle Rassismus“ begründet die alltägliche Fremdenfeindlichkeit einschließlich der Gewalttaten von FaschistInnen und Neonazis.

Für das Recht auf Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit!

Die Abschaffung der Residenzpflicht ist eine langjährige Forderung von Flüchtlingsorganisationen und antirassistischen Initiativen. Der Rassismus der Straße wird in Sonntagsreden von PolitikerInnen zwar gerne gegeißelt und im Gegenzug Integration gepredigt, doch gleichzeitig praktiziert die deutsche Asylpolitik kontinuierlich Ausgrenzung, Abwertung und Ungleichheit. Damit wird nicht nur eben jenen pöbelnden und schlagenden Rechten Vorschub geleistet, damit werden Biographien zerstört. Jeder Mensch erlebt Diskriminierung und Rassismus anders, aber nicht selten fühlen sich Flüchtlinge durch die rechtliche Diskriminierung schwerer in ihrer Würde getroffen, als von dem pöbelnden Mob.

Beitrag der Initiative für Begegnung, ein Zusammenschluss von Personen, die die soziale, räumliche und gesellschaftliche Isolation von Asylsuchenden in Potsdam überwinden möchten. Kontakt: ifbpotsdam[at]yahoo.com

Hintergrundinfos

Beispielfälle:

Sunny O. aus Nigeria lebt in Wolfsburg. Als politisch engagierter Flüchtling und als Mitglied der Flüchtlingsorganisation The Voice hat er den Flüchtlingskongress in Jena im April 2000 mitorganisiert. In seiner Funktion als Koordinator hat er die Einladungen an die internationalen Gäste des Kongresses verfasst und verschickt – mit diesen Einladungen erhielten die Gäste Besuchsvisa für Deutschland – er hingegen erhielt nicht die Erlaubnis der Ausländerbehörde in Wolfsburg am Kongress in Jena teilzunehmen, den er selbst organisiert hatte.

Nasrin F. aus dem Iran lebt in Nürnberg. Sie wollte an einer Demonstration in Berlin gegen den Besuch des iranischen Präsidenten Khatami in Deutschland teilnehmen – die zuständige Ausländerbehörde verweigerte ihr jedoch die Reiseerlaubnis. Statt dessen musste sie sich während des dreitägigen Besuches von Khatami täglich bei der Ausländerbehörde melden.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen:

Artikel 13

(1) Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates.

Artikel 19

Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinung und Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, sich Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu beschaffen, zu empfangen und zu verbreiten.

Frank Richarz  [10. Mai 2005]

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