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» leben/kulturtermine für studierende/21.11.2005, 20:00: AStA-Montagskultur



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Im Rahmen des Programms zur Eröffnungswoche des Studentischen Kulturzentrums präsentiert die AStA-Montagskultur am 21.11.2005:

Christian Gasser „Mein erster Sanyo. Bekenntnisse eines Pop-Besessenen“

Ort: Theaterraum im Studentischen Kulturzentrum, Hermann-Elflein-Str.10, Potsdam

Beginn: 20:00 Uhr

Mit Ironie und Witz schildert Christian Gasser den Leidensweg des Pop-Besessenen, der zu spät begreift, daß Pop und das richtige Leben nicht ein und dasselbe sind. Er beschwört den Popkosmos der siebziger Jahre, als noch Sweet, Uriah Heep und Status Quo die Gefühlswelt der Teenies durcheinanderbrachte, und er schildert die wirklichen achtziger Jahre, in denen Verweigerung, Liebeskum-mer und Selbstzerstörung als vorbildhafte Lebensentwürfe galten, und er erzählt von seinen Bemühungen, in den neunziger jahren erwachsen zu werden.

Pop-Besessenheit ist eine gefährliche Sache. Sie stürzt kleine Jungs und kleine Mädchen in den teuflischen Bann von Sex, Drogen und Rock’n’Roll und macht sie zu willigen Opfern von blindem Konsum und zu Anhängern der neuesten Mode, während sie zwischen Verzweiflung und Euphorie hin und herschwanken. Deutliche Indizien für diesen Zustand der Besessenheit lassen sich daran erkennen, daß plötzlich absurde Fragen lebenswichtig werden. Warum sind Sweet besser als Bay City Rollers? Was soll schlecht daran sein, wenn ich mir Popstarplakate an die Wand hänge? Warum soll ich keine eigenen Hitparaden führen? Wie verberge ich am besten eine peinliche Geschmacksverirrung? Soll ich einer geordneten Plattensammlung den Vorzug geben oder einer ordentlichen Beziehung? Kann ich mit Popmusik ein Mädchen rumkriegen? Was muß ein Popstar haben, um ein Idol zu werden? Und wie kann ich mit ihm leben? Wenn man über solche Fragen zu grübeln beginnt, ist man der Macht des Pop bereits verfallen. Davon kann Christian Gasser, Moderator und Redaktor von DRS3 (Sounds!-Surprise), freier Autor und seit über 25 Jahren mit Begeisterung pop-süchtig, ein Lied singen. Beziehungsweise Texte schreiben, in denen er mit Humor, Selbstironie und ohne Furcht vor den peinlichsten Geständnissen den Leidensweg des Pop-Besessenen schildert, der zu spät begreift, dass Pop und das richtige Leben nicht ein- und dasselbe sind. Da sich seine Texte anhören wie Pop-Singles, legt er beim Lesen das klingende Beweismaterial (von ABBA bis Alboth!, von Ursiah Heep bis Daft Punk) live auf.

Keine echte Lesung, nicht wirkliches DJ-ing, besser als persönliches Radio im Lokal: Die Bekenntnisse eines Pop-Besessenen live in Eurer Nähe.

Christian Gasser, geboren 1963, lebt in Luzern. Redakteur und Moderator beim Schweizer Rundfunk DRS3, Mitherausgeber des Comic-Magazins »Strapazin« und freier Autor. Features und Hörspiele für den WDR (zuletzt: »Mutantenkosmos« und »Blam! Blam! Kawumm!!!« „Wir sind glücklich, wenn wir traurig sind -Der finnische Tango“, alle 1999). 1994 erhielt er den Zürcher Radiopreis, 1997 eine Auszeichnung am Prix Europa, Berlin.

Seit 1996 Lesungen als »Pop-Besessener«. Letzte Buchveröffentlichung: »Mutanten – die deutschsprachige Comic-Avantgarde der neunziger Jahre« (Hrsg., 1999)

Leseprobe: Suzy, Nick und Iggy

Wer wäre ich, wenn ich mehr als nur die erste Dire-Straits-LP gekauft hätte? Wenn ich auf den Cover-Bubi vom U2-Debütalbum hereingefallen wäre? Was für ein Mensch wäre ich heute, hätte ich nicht rechtzeitig mit David Byrne gebrochen und wäre ich nicht von Anfang an für John Cale und gegen Lou Reed gewesen? Würde ich mich überhaupt näher kennen wollen, geschweige denn mit mir leben?

Fiese Fragen wie diese überfallen mich mit Vorliebe in den Sekunden vor dem Einschlafen, dann also, wenn ich besonders wehrlos bin. Schweißdurchnäßt schrecke ich auf und wanke zu meinen Platten, angsterfüllt . . . und atme – uff! – auf, nachdem ich mich vergewissert habe, daß ich die Spuren meiner kurzen Schwäche für Dire Straits getilgt habe, daß von U2 nicht mehr als »The Joshua Tree« im Regal steht (und das auch nur wegen Brian Enos Produktion) und daß ich von Lou Reed nicht mehr als die zwei notwendigen Platten mein eigen nenne (und dafür alles von John Cale horte, inklusive seiner Soundtracks für französische Beziehungsproblemeausdiskutierfilme).

Beruhigt, daß ich doch der bin, für den ich mich halte, schwebe ich zurück ins Bett und dämmere mit einem entspannten Lächeln auf den Lippen weg.

Im Leben des jungen Menschen ist die Wahl eines Idols ein Schritt von nicht zu unterschätzender Tragweite, ist es doch nach den Eltern und Lehrern seine nächste mehr oder weniger erwachsene Bezugsperson. Statt aber das Für und Wider potentieller Vorbilder vorsichtig zu erwägen, gibt er sich – verführt durch einen in der Regel mißverstandenen Refrain, ein Starschnitt-Fragment oder, perfider noch, sozialen Druck – meistens kopflos einem Pop-Star hin und bedenkt nicht, wie intim eine solche Beziehung sein kann.

So betrachtet war Suzy Quattro nicht nur sozusagen mein erstes »Pin-Up«, sondern umgekehrt auch das (nach meiner kleinen Schwester) erste Mädchen, das mich nackt sah. Und das Abend für Abend! – Noch ärger traf es Mark Mothersbaugh von Devo, der ab 1978 meinem Treiben in den zu Recht so genannten blöden Jahren ausgesetzt war und weit mehr über mich erfuhr als meine Eltern. War es ihm etwa peinlich, mir 1990 zu begegnen? Überließ er deshalb das Interview Gerry van Casale? Weil er in mir den Jüngling erkannte, dem er jahrelang von der Posterwand aus »Are We Not Men?« entgegengeschleudert hatte? Hat nicht wiederum diese Frage die Selbstzweifel genährt, denen sich ein pubertierendes männliches Wesen mit masochistischer Gründlichkeit hingibt?

Bettina Erfurt  [20. November 2005]

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