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Ästhetische Bildung in der Bildungsreformdiskussion –

von der Schillerlocke zum Vollkornbrot.

Die Frage: Wie wollen wir unser Leben gestalten? ist maßgeblich die zentrale Frage der Ästhetischen Bildung.

Ausgehend von dieser Fragestellung lassen sich verschiedenste Aspekte der Ästhetischen Bildung erschließen, etwa die Frage danach wie wir unser Leben in Anbetracht der Herrschaftsverhältnisse gestalten wollen und können. Oder die Frage danach, wie für uns die Schule der Gegenwart „aussehen“ sollte und das meint nicht nur wie sie aussehen sollte – rot, blau oder gelb, rund oder eckig, hoch oder flach, groß oder klein – sondern wie sie statt findet, was passieren und geschehen muss, wie unsere Beziehungen gestaltet sind, dass wir uns darin entwickeln und vielleicht sogar wohl fühlen können. Ein guter Kunstunterricht orientiert Lehrer/in wie Schüler/in ganz praktisch auf diese Weise. Intention der Seminargestalter war es (ich sage das mal so frevelhaft) erst einen „Input“ zu geben, um dann Fragen zu stellen, Meinungen auszutauschen und – möglicherweise – Ergebnisse zu produzieren. So möchte ich zunächst und vorweg einige Begriffe klären aus deren Kenntnis heraus wir in eine Diskussion oder gar anderweitig produktiv einsteigen können.

Die Schillerlocke – ich habe ein solches Exemplar mitgebracht – ist die in Streifen geschnittene Bauchschwarte des Dornhais, auch Seeaal genannt, die sich beim Räuchern goldblond färbt und sich lockenförmig aufrollt. Wegen dieser eigentümlichen Gestalt hat man sie in Anlehnung an die Haartracht des aufklärerischen Dichters Friedrich Schiller, der von 1759 bis 1805 lebte, benannt. So die Auskunft meines Fischhändlers in der Kreuzberger Dieffenbachstraße.

Friedrich Schiller gilt gemein hin als Begründer der selbstreflektierten ästhetischen Erziehung. In seinen theoretischen Schriften finden sich 27 Briefe „über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Aufbauend auf der Kant’schen Ästhetik des interessenlosen Wohlgefallens überwindet Schiller die Kant’sche Sittenlehre des kategorischen Imperativs und entwirft den Begriff der „schönen Seele“ als Ideal des Menschen, bei dem Schönheit die Vernunft mit den Ansprüchen der Sinnlichkeit, d. h. Pflicht und Neigung, versöhnt.

An dieser Stelle muss und möchte ich abbrechen. Wer mit abstrakten Begriffen operiert, ohne vorher zu erklären, warum sie entstanden sind und wie sie zu verstehen sind, produziert das so genannte „Zahnpasta-Problem“. Die Abstraktion ermöglicht keinen Rückbezug mehr im Konkreten, d. h. was aus der Tube herausgedrückt wurde, ist im Anschluss nicht wieder in die Tube zu bekommen. Zwar strahlen die Zähne des Redners, doch der Gehalt ist verbraucht, bzw. unbrauchbar. Was vorgetragen wurde habt ihr binnen zwanzig Minuten vergessen und lasst es hier, doch das „Zahnpasta-Problem“ wird euch noch in zwanzig Jahren begleiten. Warum? Weil Morus Markard, der Schöpfer dieses Beispiels, ein Alltagsbild verwendet, um das Problem von Abstraktion und Konkretion im pädagogischen-psychologischen Kontext zu ver a n sch a u lichen. Im Grunde ist genau das der Gegenstand von Ästhetik im Weiteren und Kunst im Besonderen. Warum? Meint ihr etwa Morus sei gar zum Künstler befugt? Dann muss ich widersprechen. Das Beispiel 1. Echtzeit: Unbefugten

So habt ihr gleich erfahren, warum das Betreten dieses Vortrages für Befugte nicht verboten und das jeder Mensch ein Künstler ist. In der Ästhetik geht es um die sinnliche Erfassbarkeit eines Gegenstandes und um der Gewahrung seiner Eigenheit, unabhängig von der Zweckmäßigkeit dieses Gegenstandes. Der Gegenstand muss also nichts mit Kunst zu tun haben. Die Ästhetik fixiert ihre Ergebnisse in der Regel auf der begrifflich-theoretischen Ebene. In der Kunst geht es darum, wie ihr hören konntet, Unsinn sinnlich zu machen, Unsichtbares sichtbar, Unfühlbares fühlbar, Unverständliches verstehbar. Kunst spielt auf der exemplarisch-praktischen Ebene. Widerspruch und Gegensätzliches – philosophisch und begrifflich als Dialektik bezeichnet – erzeugen Spannung und den Genuss von Kunst. Kunst ist einerseits Ikone, anderseits Gegenpart zur Religion, denn in der Bibel heißt es: Du sollst dir kein Bild machen von Gott. Kunst ist und war schon immer unartig. Die gesamte Kunstgeschichte ist voll von göttlichen Bildern. In der Regel machen Bilder Lust, vorausgesetzt die Bildsprache ist für denjenigen und diejenige, der oder die sie betrachtet erschließbar und verständlich. Verständnis, das ist der zentrale Gegenstand von Kunst im Allgemeinen. Adorno sagte: „Der Geist der Kunstwerke haftet an ihrer Gestalt, ist aber Geist nur, insofern er darüber hinausweist.“ Ein Kunstwerk ist folglich die Einheit von Form u n d Inhalt. Ein Kunstwerk braucht die Verbindung von subjektivem Interesse und objektivem Wahrheitsgehalt, um für mehr Menschen, als nur den/die Künstler/in Bedeutung zu tragen.

Ob Jo Niemeyer das Verhältnis des Goldenen Schnitts an sich selbst darzustellen trachtet (Tafelbild!) oder ob Rune Mields Primzahlen darstellt. Ob Joseph Beuys das Rudel-Verhalten des Menschen interpretiert (The pack) oder sich gleich selbst in die Begegnung mit einem Koyoten begibt, wie in dem Happening „I like America and America likes me“: immer geht es um die Reflextionszumutung an den Betrachter/in. „Es fordert uns auf zu verstehen“, interpretierte der Kunstphilosoph Ulrich Schmücker aus Hamburg.

Ärgerlich wird es immer, wenn ich das Kunstwerk nicht „verstehe“.

Beispiel 2. Beuys: „Ja, ja, ja, ja, ja, ne, ne, ne, ne, ne.“

Was soll dieser Unsinn? Als junger Jugendlicher fand ich ein Foto in einer Berliner Boulevard-Zeitung lustig, auf dem jemand ein Schild in einen Steinhaufen gesteckt hatte, mit der Aufschrift: „Nicht von Beuys!“. Ich erinnere mich sehr gut, dass ich bei meinen ersten Museumsbesuchen, Mitte der Neunziger Jahre, Bilder von Cy Twombly sah und mich verärgert fragte: „Was soll dieser Scheiß im Museum? Das kann doch jedes Kind!“ In der Tat: Pablo Picasso sprach davon, dass es die Profession des/der Künstlers/in sei, das Kind in sich wach zu halten. Inzwischen hat sich mein Blick für Bilder von Cy Twombly geändert. In Museen für zeitgenössische Kunst betrachte ich diese Bilder mit ihrer wilden Dialektik von Linie und Fläche, ihrem Gemisch aus kräftigen Materialverdichtungen und lasierten Farbnebeln, aus Grafik und Malerei besonders gerne. In der Beschäftigung mit Kunst haben sich mein Blick und meine Wahrnehmung verändert.

Adorno brachte diesen Wandel auf den Punkt: „In oberster Instanz sind die Kunstwerke rätselhaft nicht ihrer Komposition sondern ihrem Wahrheitsgehalt nach. Die Frage mit der ein jegliches den aus sich entlässt, der es durchschritt – die: Was soll das alles?, rastlos wiederkehrend, geht über in die: Ist es denn wahr?, die nach dem Absoluten, auf die jedes Kunstwerk dadurch reagiert, dass es der Form der diskursiven Antwort sich entschlägt.[…] Die äußerste Gestalt, in welcher der Rätselcharakter gedacht werden kann, ist, ob Sinn sei oder nicht. Denn kein Kunstwerk ist ohne seinen wie immer auch ins Gegenteil variierten Zusammenhang.[…] Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Das und nichts anderes rechtfertigt Ästhetik.“ Wer achtlos an Kunstwerken vorbeirauscht, dem entgeht das Erstaunliche, das Widersprüchliche, das Unverständliche mit der Aufforderung zum Verharren und zum Verstehen.

Um Kunstwerke zu verstehen bedarf es eines kulturellen Repertoires, dass wir uns nur über Bildung erschließen können. Doch was ist Bildung? Bildung wird sehr unterschiedlich dargelegt. So wird der bürgerlich-neoliberale Bildungsbegriff eines Herrn Kranitz als Ansammlung von Kenntnissen (z. B. bestimmter Romane und Kompositionen) geschildert, die den oder die Bürger/in peu a peu zum gebildeten Menschen werden lassen. Der Nürnberger Trichter lässt grüßen. Aus emanzipatorischer Sicht ist Bildung der Prozess, in dem sich Menschen die Erscheinungsformen der Welt zu erklären suchen. Dabei geht es um die subjektive Aneignung, das Deuten und Erforschen, Ergründen von Zusammenhängen und Erscheinungen in der Welt.

So wählt Klaus Holzkamp in seiner Darlegung der subjektwissenschaftlichen Auffassung vom Lernen eine hoch entwickelte Bedeutungsstruktur ästhetisch-musikalischer Art, als Beispiel einer Lernproblematik, nämlich Schönberg’ s Orchestervariationen. Die Aufschlüsselung diese Komposition als Paradebeispiel der Zwölftonmusik entspricht seinem ureigensten, subjektiven Interesse. Das ist eine Form des Lernens, die Holzkamp expansiv nennt und die alles andere als herrschend in unseren Schulen ist. Seine Schulkritik mündete in der Aussage, dass die Herrschaftsstrukturen und Mechanismen der Institution Schule das Subjekt, den/die Schüler/in einkreisen und zum Lernen nach Verwertung trainieren (defensives Lernen) und das eigentliche Lerninteresse (expansives und kooperatives Lernen) systematisch behindern.

Zweifellos gehört zur Erschließung komplizierteren Sachverhalts, einer Lernproblematik, die Notwendigkeit, sich Grundlagenwissen anzueignen. So erfordert Arnold Schönberg`s Verständnis einer „Verklärten Nacht“ möglicherweise ein gewisses Maß an Hörgewohnheit.

Das wohl größte Gemälde der Welt am Hang der „Blutrinne“ in Bad Frankenhausen/ Thüringen von Werner Tübke erschließt sich mit einiger Kenntnis der Reformationsgeschichte sicher besser als Wunderwerk malerischer Erzähltechnik.

Warum beschäftigt uns das alles und ausgerechnet bei einem Seminar zur Erforschung des studentischen Standpunktes zur Lehrer/innenbildung in der Hochschul- und Bildungsreform? Es geht so sehr darum, dass Kunstunterricht Lösungen für wichtige Reformelemente (z. B. Portfolioverfahren, Präsentationsmöglichkeiten oder Problemlösekompetenzen) anzubieten hat und im Ganzen Sinn stiftet. Vielmehr: Ästhetische Bildung und Bildung überhaupt, entscheiden über den Zugang subjektiver Möglichkeiten in objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen. Bildungspolitik ist Bestandteil unserer Kultur. Kultur ist, „wie der Mensch lebt und arbeitet“. Zur Kultur gehört die Kunst, als Prinzip der unerschöpflichen Möglichkeiten, aber auch die Wirtschaft als Prinzip des Mangels und der Bedürftigkeit. Kultur ist somit Austragungsort und Spiegel der gesellschaftlicher Macht-, Verteilungs- und Wiederherstellungsverhältnisse. Ein konkretes und wichtiges Wirkungsfeld ist die Kunstökonomie. Kunst sei brotlos, heißt es sprichwörtlich. Doch das stimmt nur zum Teil. Ein Teil der Künstlerinnen kann sehr gut von der Kunst leben. Statt Vollkornbrot mit Schillerlocke wird das Weißbrot mit russischem Kaviar belegt. Außerdem wurden etliche soziale Maßnahmen nach zähen Kämpfen verbessert (KSK). Aktuell bleibt etwa nach den Koalitionsverhandlungen der reduzierte Mehrwert-Steuersatz von 7 % für Kunst erhalten. In der Kunstökonomie lassen sich die kulturellen Verhältnisse und ihre Entwicklung besonders gut ablesen. Der Rückgang fester Beschäftigungsverhältnisse zugunsten der Freiberuflichkeit entlässt Künstler/innen in die Freiheit von gesetzlich und tariflich geregelten Mitsprache- und Partizipationsmöglichkeiten. Berufsverbände, Gewerkschaften und Institutionen (z. B. der Deutsche Kulturrat) agieren stellvertretend und zumeist sehr hilflos. Während der Kunstmarkt boomt, erhält die große Masse der Künstler/innen nicht einmal ein paar Krümel vom Vollkornbrot ab. Die Verteilungsverhältnisse unter den Künstler/innen bieten einerseits den Starkult, der einer kleinen Elite besonders willfähriger, bzw. nützlicher Künstler/innen, anderseits die Verarmung der großen Masse von Künstler/innen. Die Künste sind ein wichtiger Teil der Kulturproduktion. Dabei bestellt Kunst- und Kulturproduktion das wohl wichtigste Konsumtionsfeld der gesellschaftlichen Reproduktion. Kulturprodukte sind weltanschauliche und politische Bedeutungsträger, z. B. in Ausstellungen, Bücher und Zeitschriften, Musik-, Theater-, Film- und Videoproduktionen, Computerspiele, der Vertrieb verschiedenster Medien, die gesamte Sportindustrie und/ oder Events aller Sorten. Einerseits herrscht stringente „Leistungsorientierung“ und das daraus resultierende Bedürfnis nach Unterhaltung, anderseits gibt es Massen von Erwerbslosen, die ihre Zeit vertreiben müssen, wollen und sollen. Eine entscheidende Frage für heute und in Zukunft ist, wer über die Inhalte im Kunst- und im Kultur(respektive: Bildungs-)sektor bestimmt. Mit den GATS-Verhandlungen sind meine Fragen ja sehr aktuell. Wer entscheidet was gelernt, gelesen, gehört und gesehen wird? Wer entscheidet was hergestellt und produziert wird? Wer entscheidet, wie das Erreichte verteilt wird? Wie können und wollen wir unter veränderten Bedingungen Unterricht gestalten? Was können und wollen wir verändern? Was soll in der Schule gelernt werden? Wer lernt was? Wer darf an welchem Unterricht teilnehmen? Was wird unter „Leistung“ verstanden und was unter „Demokratie“? Brauchen wir Prüfungen, Stundenpläne, Selektion und Zensuren? Wie wollen wir Studieren und Lernen? Wie wollen wir leben? Ästhetische Bildung ist mehr als Kunstunterricht. Ästhetische Bildung ist die Vollwertkost für alle, denen es nicht Wurst ist, ob der gesellschaftliche Käse ungenießbar bleibt.

Vollkornbrot und Schillerlocke für alle!

Stephan Antczack  [11. September 2006]

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